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Wieder gab es kein heißes Wasser. Das war immer so, wenn Willem erst nach zehn Uhr aufstand. Dann hatten bereits die übrigen Mieter geduscht und den Warmwasservorrat aufgebraucht. Es dauerte bis vier oder fünf Uhr nachmittags, bis das Wasser wieder heiß war. Eigentlich wäre für alle Mieter genug warmes Wasser da gewesen. Aber in dem Appartement unter ihm hausten drei oder vier zwergenhafte Kolumbianerinnen auf den gleichen zwanzig Quadratmetern, die auch Willem zur Verfügung standen. Zudem wuschen sie ihre Wäsche in der Wohnung, um das Geld für den Waschsalon zu sparen. Es hatte keinen Sinn, sich zu beschweren. Der Besitzer war Willem unbekannt. Und die Immobilienagentur, die ihm das Appartement vermittelt hatte, kümmerte sich nicht darum. Sie würde es sogar gerne sehen, wenn er ausziehen würde. Denn er zahlte gerade einmal zehn Prozent mehr Miete als bei seinem Einzug vor gut zwei Jahren. Bei einem neuen Vertragsabschluss könnte die Agentur wegen der rasant gestiegenen Preise mindestens dreißig Prozent auf die Miete draufschlagen.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als kalt zu duschen. Noch mehr ärgerte ihn aber, dass er so lange geschlafen hatte. Normalerweise stand er nie später als halb neun auf. In der Nacht hatte er lange wach gelegen und war erst gegen Morgen eingeschlafen und immer noch müde.
Die letzten Tage hatte er wie alle Tage verbracht. Er hatte sich durch die Straßen treiben lassen, aber nicht mehr ziellos. Denn seit seinem Entschluss, Hewitts Tochter zu entführen, hatte er ein Ziel, das ihn ganz erfüllte. Er war sich klar darüber, dass es ein Verbrechen wäre, und ebenso, dass er damit zum Verbrecher würde. Aber dieser Gedanke stachelte ihn erst recht an. Allein die Vorstellung, dass Hewitt eine Gefahr drohte, dass er selbst es war, der Hewitt wie kein anderer gefährlich werden würde, stimmte ihn euphorisch. Ein paar Mal war es Willem sogar passiert, dass er plötzlich auf der Straße in geradezu schallendes Gelächter ausgebrochen war. Die Leute hatten sich nach ihm umgedreht. Doch ihre Ahnungslosigkeit und die Verblüffung in ihren Gesichtern hatten ihn noch mehr erheitert.
Fast täglich war er an Hewitts Haus vorbeigeschlichen, war durch den Holland Park gestreift. Doch nur einmal hatte er Hewitt gesehen. Nicht allein, sondern wieder mit seiner Tochter, die dieses Mal mit einem Hund, einem Golden Retriever, im Park spazierte.
Aber Willem hatte noch keine Idee, wie er an das Kind herankommen könnte. Noch mehr Kopfzerbrechen bereitete ihm die Frage, was er mit dem Kind anstellen würde, falls er es überhaupt zu fassen kriegte. Patricia musste mit Sicherheit für zwei, drei Tage irgendwo versteckt und versorgt werden, vielleicht sogar für eine Woche. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo. Zudem konnte er mit Kindern nichts anfangen. Kinder waren für ihn kleine Ungeheuer, unberechenbare Monster, die nur ihren Instinkten folgten. Er selbst dachte nie an seine Kindheit. Er konnte sich gar nicht vorstellen, jemals ein Kind gewesen zu sein. Gleich in welchem Alter, mit fünf, mit fünfzehn oder mit fünfunddreißig, Willem war immer derselbe gewesen und würde es wohl immer bleiben, ohne jede tiefe Veränderung.
Er erkannte bald, dass er die Sache niemals allein würde durchziehen können. Er brauchte einen Komplizen. Wer würde den Wagen fahren? Wer würde das Kind bewachen, wenn er das Lösegeld abholte?
Eine Stadt wie London war voller Typen, die zu allem bereit waren, weil sie nichts zu verlieren hatten. Am Tag lungerten sie in der U-Bahn-Station Earls Court herum und bevölkerten in Soho die Shaftesbury Avenue bei Nacht. Sie taugten aber für Willems Zwecke nicht, da sie mit ihrer Selbstverachtung auch ihn gefährden würden. Er stellte sich jemanden vor, der wie er den Ehrgeiz hatte, tatsächlich ein neues Leben anzufangen, und dem es nicht nur darum ging, das gegenwärtige wegzuwerfen.
Von allen, die er in London kannte, kam dafür nur eine Person in Frage: Pia, eine kleine Spanierin, die, so weit Willem wusste, kaum älter als zwanzig Jahre alt war.
Am späten Nachmittag veränderte die Stadt plötzlich ihren Charakter. Mit dem beschaulichen Leben war es schlagartig vorbei. Eine unangenehme Hektik machte sich breit, am unangenehmsten in der U-Bahn. Jeder wollte schnell irgendwohin, als ob wer weiß was auf ihn wartete.
Willem blieb nichts anderes übrig, als sich dem Tempo anzupassen. Er freute sich darauf, Pia wiederzusehen. Andererseits hatte er ein bisschen Angst davor. Wie würde sie auf sein Angebot reagieren? Hastig lief er mit der Masse die steilen Treppen hinab, um von den Nachfolgenden nicht überrannt zu werden. Der startbereite Zug war bereits voll bis auf den letzten Stehplatz. Doch die Nachrückenden ließen ihm keine andere Wahl. »Mind the doors, please!« In letzter Sekunde wurde auch Willem noch reingestopft. Green Park war zum Glück der nächste Halt. Die Türen öffneten sich, und er wurde hinauskatapultiert.
Auf der Rolltreppe nach oben positionierte er sich artig rechts, während links die aufgeregte Meute vorbeihetzte. Oben angekommen, zückte er seine Fahrkarte, steckte sie in den dafür vorgesehen Metallschlitz und zog sie blitzschnell wieder raus. Die Türen der Absperrung sprangen mit lautem Knall auf, er hindurch, die Türen hinter ihm zu. Aber war er der einzige, der in Green Park an die Oberfläche wollte? Alle anderen kamen ihm auf der Treppe entgegen. Er dachte, er müsse in einem reißenden Fluss gegen den Strom schwimmen. Auf der Straße das gleiche. Wieder strömte alles ihm entgegen.
Er kämpfte sich Meter für Meter bis zum »Ritz«, bog dort rechts ab. Geschafft! In der Jermyn Street, der Straße der Hemden- und Schuhmacher, wurde es ruhiger. Die ersten Geschäfte waren bereits geschlossen. Willem legte wieder die ihm gemäße Gangart ein, bummelte an den verführerischen Auslagen vorbei und träumte eine Weile von besseren Zeiten.
Wäre es nicht unbedingt notwendig gewesen, hätte er den Südwesten Londons um diese Tageszeit nicht verlassen. Aber Willem hatte weder Pias aktuelle Telefonnummer, falls sie überhaupt eine hatte, noch ihre aktuelle Adresse. Leute wie Pia zogen in London ständig um. Man wohnte in möblierten Zimmern, mal alleine, mal mit mehreren, packte wieder seine Siebensachen, weil einem ein Mitbewohner nicht passte oder weil man einfach die Miete nicht mehr zahlen konnte. Eine Meldepflicht wie auf dem bürokratischen Kontinent existierte nicht.
Willem wechselte auf die linke Straßenseite, ging wieder zum Piccadilly hoch, am »Meridian Hotel« vorbei und dann in die Swallow Street. Hier hoffte William, Pia innerhalb der nächsten halben Stunde abzufangen.
Er hatte Pia gleich nach seiner Ankunft in London kennen gelernt. Sie arbeitete damals in einem netten kleinen Kellerlokal in Notting Hill, das vor allem Studenten frequentierten. Willem mochte die Jazz-Musik, die dort aufgelegt wurde und ihn an Aufnahmen aus den sechziger Jahren erinnerten. Es war nie viel los. Und die paar Studenten hatten bestenfalls Geld für einen Drink. Für Pia gab es deshalb an der Bar nicht viel zu tun, so dass sie immer Zeit hatte, sich mit Willem zu unterhalten.
Eines Abends hatte sie Willem ganz unbefangen gefragt, ob sie ein paar Tage bei ihm wohnen könnte. Dass auch er nur in einem Zimmer lebte, störte sie nicht. So kam Pia am selben Abend mit zu ihm und blieb eine Woche. Jeden Abend stieg sie in sein Bett, küsste ihn und schlief in seinen Armen ein. Mehr passierte nicht. Stattdessen erzählte sie ihm alles aus ihrem bislang kurzen Leben.
Sie war in einer kinderreichen Familie im Süden Spaniens aufgewachsen, hatte sich durch die höhere Schule gequält und war, weil es in ihrer Heimat keine Jobs gab, als Au-pair-Mädchen in England gelandet, in irgendeinem langweiligen Nest im Nordosten. Kaum war sie angekommen, verging sich der Hausherr brutal an ihr. Und die Hausherrin prügelte sie aus dem Haus, als Pia ihr die Vergewaltigung offenbarte. Anschließend floh sie nach London, wo ihr eine spanische Freundin den Kellner-Job verschaffte. Das alles erzählte Pia ihm nicht, um sein Mitleid zu erwecken, sondern um ihm zu zeigen, dass sie bereits eine Frau war, eine Frau, der das Leben nicht mehr viel anhaben konnte.
Seit das Jazz-Lokal in Notting Hill geschlossen hatte, sahen sie sich selten. Pia arbeitete danach in einem Jeans-Shop in der Oxford Street, die er wegen der Menschenmassen mied. Vor drei oder vier Monaten rief sie überraschend an, wobei sie erwähnte, inzwischen in einem »Herrenclub« als Animier-Mädchen zu arbeiten. »Das ist aber nicht das, was du denkst«, hatte sie halb im Ernst, halb im Scherz gesagt. Willem hatte sich nun vor den »Stork Rooms«, so der Name des Clubs, aufgebaut und wartete.
»Hey, Will, bist du es wirklich?«
Willem drehte sich um.
Das gleiche hätte er zurückfragen können, bekam aber nur heraus: »Pia?!«
Natürlich war es Pia, die vor ihm stand. Sie sah sehr verändert aus. Insbesondere die rote Perücke irritierte ihn. Und sie roch stark nach einem schweren Parfüm. Sie umarmten sich heftig, Willem weniger aus Freude, sondern um seine Verlegenheit zu überspielen.
»Bist du zufällig hier? Oder willst du etwa in den Club?«
»Nein, nein. Ich bin deinetwegen hier, ganz im Ernst. Ich hatte einfach Sehnsucht nach dir«, versuchte Willem Pia zu schmeicheln.
»Na, dann musst du doch in den Club kommen. Mein Dienst fängt gleich an«, sagte Pia, wobei sie dem Wort »Dienst« eine ironische Färbung gab. »Aber um diese Zeit ist noch nicht viel los. Wir können uns an die Bar setzen und etwas trinken. Komm doch mit! Bitte!«
Willem hatte diese Art von Etablissement immer verabscheut. Er fand sie schlichtweg unanständig. Er wagte es aber nicht, Pia ihre Bitte abzuschlagen. Schließlich wollte er etwas von ihr.
Drinnen sah es genauso aus, wie er es sich vorgestellt hatte, billig, dunkel, plüschig, wie in einer heruntergekommenen Siebziger-Jahre-Diskothek, die man mit etwas schwarzer Farbe aufgemöbelt hatte. Pia entschuldigte sich damit, sie müsse sich noch etwas herrichten, und bat ihn, an der Bar zu warten.
»Ich bin in fünf Minuten wieder da. Bestell etwas auf meine Rechnung!«
Willem blätterte lustlos die Cocktail-Karte durch und bestellte schließlich einen Negroni. An der Bar saßen zwei grell geschminkte Mädchen, die er abstoßend fand, eine Asiatin und eine Lateinamerikanerin, die indianisch aussah. Sie fixierten ihn. Willem hoffte, dass Pia bald kommen würde. Da kam sie auch schon. Nicht nur die rote Perücke in Form eines Pagenkopfs machte sie strenger und älter, auch ihre Haut. Sie sah gelblich aus wie bei vielen Südeuropäern im Winter. Aber es war kein Winter. Außerdem hatte sie Schatten unter den Augen. Geschminkt hatte sie sich nicht, bis auf den roten Mund, das gleiche Dunkelrot wie die Perücke. Pia stellte ihm die beiden Mädchen, deren Namen er sofort vergaß, als ihre Freundinnen vor.
»Du warst doch nur neugierig auf den Club und wolltest sehen, was deine Pia hier Schmutziges tut. Gesteh! Deswegen bist du gekommen!«
»Nein, ich will mit dir reden. Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen.«
»Das ist alles?«
»Ich hätte vielleicht einen Job für dich.«
»Was für einen Job? Etwas Unanständiges?«, fragte sie scherzhaft.
Willem wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte. Unanständig war der Job, den er ihr anzubieten hatte, in dem von ihr angedeuteten Sinne nicht.
»Lass uns darüber ein andermal reden, nicht hier. Wann hast du Zeit?«
»Sonntag ist mein freier Tag. Wie sieht es bei dir nächsten Sonntag aus?«
»Gut, sehr gut. Ich lade dich zum Chinesen ein.«
Willem war eingefallen, dass sie für ihr Leben gerne chinesisch aß, die beste Art, in London essen zu gehen.
»Soll ich dich zu Hause abholen? Wo wohnst du mittlerweile?«
Pia schrieb ihm auf einem kleinen Zettel den Namen einer Straße südlich des Regent’s Park auf, eine »bessere« Gegend, die Willem aber nicht gut kannte.
Sie redeten noch eine Weile, bis ein kleiner untersetzter Mann durch den roten Samtvorhang am Eingang kam. Pia rückte etwas von Willem weg und lächelte den Mann an, der schnurstracks auf sie zukam.
»Hallo, meine Liebe? Wie geht es dir?«, schleimte sich der Dicke heran.
»Hallo, mein Lieber, gut«, gab Pia gekünstelt zurück.
»Würdest du mir die Freude machen und dich zu mir setzen?«
»Aber mit Vergnügen.«
Pia drehte sich zu Willem.
»Es tut mir Leid. Aber Dienst ist Dienst. Bleib nur! Trink wenigstens deinen Negroni aus!«
William blieb an der Bar und nahm sich aus Pias Packung, die sie liegen gelassen hatte, eine Zigarette.
Pia hakte sich bei dem Dicken ein, der kaum größer war als sie. Sie setzten sich an einen kleinen Tisch, direkt vor der noch leeren winzigen Tanzfläche. Keine fünf Minuten später stand ein Eiskübel mit einer Flasche Champagner vor ihnen. Willem versuchte angestrengt, nicht hinüber zu sehen. Er wollte nicht, dass Pia sich beobachtet fühlte. Doch immer wieder wurden seine Blicke von dem skurrilen Pärchen angezogen.
Der Dicke trank Bier, während sich Pia selbst ein Glas Champagner einfüllte. Nach weiteren fünf Minuten lag die rechte Hand des Dicken feist auf ihrer Schulter. Er knutschte an ihrem Hals herum. Pia versuchte immer wieder seine Attacken lachend auszuweichen. Doch da fasste auch schon seine freie Hand ihr zwischen die Beine. Pia versuchte immer noch zu lachen.
Willem stand auf. Er sah Pia an. Sie sah ihn an. An der Not in Pias Augen erkannte er, dass seine Entscheidung, sie zur Komplizin zu machen, richtig war.